Stadteil Stöckach
Kurze Geschichte des Stöckachs
von Ulrich Gohl
Der im Jahre 1334 erstmals erwähnte Name Stöckach geht wohl auf die (Wurzel-)Stöcke oder Stumpen zurück, die nach der Brandrodung auf den angelegten Wiesen südöstlich des unteren Nesenbachs noch lange erkennbar blieben. Die Flächen gehörten spätestens im 16. Jh. dem Landesherren. In jener Zeit sei hier vor allem krankes Vieh gehalten worden, das von den Herden talaufwärts und jenseits des Nesenbachs abgesondert werden sollte. Die einzigen Gebäude blieben über Jahrhunderte ein paar kleinere Ställe und Heuschober.
Das Gelände durchzog als Verbindung zwischen Stuttgart und Berg ein am Hang gelegener Fußweg. Seine Funktion übernahm der 1572/73 angelegte Rennweg, wegen seines Belages auch Kiesweg genannt, dessen Verlauf ungefähr die heutige Cannstatter Straße folgt.
1811 kaufte König Friedrich das Landhaus Retraite als Sommeraufenthalt – das erste feste Bauwerk im Gebiet des zum heutigen Stadtbezirk Stuttgart-Ost gehörenden Stöckachs. Es stand dort, wo jetzt die Heilmannstraße in die Cannstatter Straße mündet (Schwabengarage).
Nahebei lag (im heutigen Stadtbezirk Mitte) das 1482 erstmals urkundlich erwähnte Hirschbad, das mehrfach einging und unter verschiedenen Namen wiedererstand. Ab 1579 erhob sich hier ein Wasserturm, der die Brunnen der Anlagen speiste; er wurde 1738 abgebrochen. An das Landhaus Retraite schloss sich in nordöstlicher Richtung die königliche Menagerie an, die jedoch schon 1817 wieder geschlossen wurde. Die Fläche und einige Gebäude übernahm die 1821 gegründete Tierarzneischule (später Tierärztliche Hochschule), die dann 1912 aus Kostengründen aufgelöst wurde.
Die Straßenbahn als Anstoß
Den Anstoß zur baulichen Entwicklung der Stöckachgegend gab die Inbetriebnahme der Pferdebahn zwischen Stuttgart und Berg im Jahre 1868, die schon im Folgejahr bis Cannstatt weitergeführt wurde. Die ersten Wohnhäuser an der Neckarstraße in Berg wurden 1869/70 gebaut. In der ersten Hälfte der 1870er-Jahre entstanden u. a. Stöckach-, Metz-, Sedan-, Werder- und Villastraße. 1876 wurde eine kleine Wanderkirche aufgestellt, die bis zum Bau der Friedenskirche 1892 den evangelischen Gläubigen zur Verfügung stand. 1899 weihten die Katholiken ihre St.-Nikolaus-Kirche. Ab 1878 besuchten die Kinder die neue Stöckachschule. Im Jahre 1902 wurde die Elektrische Zentrale Stöckach in Betrieb genommen, die mit einer 1000-PS-Turbine Strom erzeugte. Zu Beginn des 20. Jh. war die heutige Struktur des Stöckachs somit bereits weitgehend vorhanden.
Dort, wo heute die Stadtreinigung und das bisherige Arbeitsamt stehen (zwischen Cannstatter, Heinrich-Baumann- und Neckarstr.), erstreckte sich wohl schon ab etwa 1880 der Stöckach-Spielplatz, eine weitläufige Sportanlage, die 1913 mit einer hübschen Brunnenanlage verziert wurde. Der Sportplatz wurde 1918 zugunsten einer Barackensiedlung aufgegeben, die 1931 wieder abgerissen wurde.
Auch einige Industriebtriebe siedelten sich hier an, so 1860 die Eisengießerei A. Stotz, die allerdings 1898 nach Kornwestheim umzog. Bedeutung erlangte auch die Waldor-Astoria-Zigarettenfabrik (Ab 1908 in der Hackstraße 9-11); ihr Direktor gründete 1918 an der heutigen Haußmannstraße die erste Waldorf-Schule.
An wichtigen öffentlichen Gebäuden waren in der Zwischenzeit hinzugekommen: 1912 das Reformrealgymnasium (heute Zeppelin-Gymnasium) und 1930 das Telegrafenamt (Neckarstr. 145; später Süddeutscher Rundfunk, jetzt Staatsanwaltschaft). Unter dem Luftkrieg litt die Stöckachgegend besonders. Friedens- und Nikolauskirche wurden ausgebombt, außerdem die Stöckachschule und zahlreiche Wohngebäude. Neubauten füllten nach und nach die Lücken. 1960 wurde der Nesenbach von der Heilmann- bis zur Villastraße verdohlt.
Bedrohung und Chancen
Die gute Verkehrsanbindung, die einst das Stöckachviertel hatte entstehen lassen, hat sich im Zuge der allgemeinen Motorisierung zum Standortnachteil entwickelt. Die vielbefahrene Cannstatter Straße trennt das Wohngebiet fast unüberwindlich vom wichtigen Spiel- und Naherholungsgebiet des Unteren Schlossgartens. Auch die Hack- und die Neckarstraße leiden unter Verkehrsüberlastung. Dies führt zu einer starken Fluktuation der Wohnbevölkerung; in die einfachen und preiswerten Wohnungen ziehen hauptsächlich Migranten ein. In der Heinrich-Baumann-Straße entstand in einem aufgegebenen Industriegebäude die erste Moschee des Stadtbezirks. Das Zusammenleben gestaltet sich insgesamt offenbar friedlich. Die Läden rund um den Stöckachplatz bieten noch alle Waren des täglichen Bedarfs an. Es zeigen sich Ansätze einer spannenden Subkultur.
Wenn das Rosensteinquartier jenseits der Anlagen verwirklicht sein wird, dann wird dem Stöckachquartier eine ganz neue Bedeutung zukommen. Hier werden – bessere Querungen der Cannstatter Straße vorausgesetzt – die neuen Bewohner ihre Kinder zur Schule schicken, hier werden sie einkaufen und sich amüsieren wollen. Auch auf dem ENBW-Gelände an der Hackstraße werden viele neue Wohnungen entstehen.